„Tradition gegen Tyrannei“: ein Gespräch mit Evgeniy Netschkasov

Das Interview für den slowenischen Blog „Tradition gegen Tyrannei

Um einen Anfang zu machen, können Sie bitte erzählen, wie und wann haben Sie begonnen, sich für die alte Tradition zu interessieren, und was hat Sie zum Heidentum gebracht?

Ich begrüße Sie!

Im vorigen Jahr (2019) waren es 10 Jahre, als ich mich auf den heidnischen Weg gestellt hatte. Schon in der Zeit meiner Jugend fielen mir Bücher von Aleksey Dobrovolskiy (Dobroslav) und Varg Vikernes in die Hände. Das war ein Anstoß, um sich in die heidnischen Traditionen zu vertiefen. Bevor hatte ich aktiv den klassischen europäischen Okkultismus erforscht. Jetzt ist meine Anschauung viel tiefer und breiter. So habe ich beispielsweise verstanden, dass Varg sich als Heide nur in seiner Musik und nicht in seinen Ideen oder Büchern geöffnet hatte.

Es kommt noch hinzu, dass ich eine direkte deutsche Herkunft habe. Meine Vorfahren wanderten ins Russische Reich ein und dann wurden sie in eine Verbannung nach Sibirien geschickt. Das deutsche Blut bestimmte meinen Weg im Rahmen der germanisch-skandinavischen Tradition. Doch das slawische Heidentum sehe ich als einen Freund und Verbündeten an. In vieler Hinsicht ist es so, weil ich schon seit vielen Jahren mit Weleslav Tscherkasov befreundet und nicht schlecht mit seiner Philosophie und seinen Büchern bekannt bin. Seine Lehre über das Sakrale und die innere Natur des Menschen lässt sich auch in meinen Werken zurückverfolgen.

Im Prinzip wäre es völlig gerecht zu sagen, dass Heidentum ist eine natürliche und authentische Religiositäts- und Geistigkeitsform für alle Völker, die diese Welt bewohnen.

Sie haben einige Bücher über Heidentum und den alten Glauben geschrieben. Erzählen Sie bitte in Kürze über diese Werke und andere Ihre Projekte. Erklären Sie auch bitte den Sinn der Weltanschauung, die Sie den „heidnischen Traditionalismus“ nennen.

Meine Werke können in zwei Richtungen eingeteilt werden: Bücher über die germanisch-skandinavische Tradition sowie auch Bücher und Artikel über die heidnische Philosophie, Theologie und Kritik. Die zweite Richtung, wie ich meine, schneidet allgemeine Fragen und Probleme an, auf die sich die indoeuropäische Tradition stößt, besonders in Europa. Ich entwickle meine Tradition und schlage gleichzeitig Lösungen vor und bringe Fragen auf, die uns alle betreffen. Das ist eine Arbeit für das Gemeinwohl.

Ich habe zwei Bücher über die germanisch-skandinavischen Tradition veröffentlicht: „Gap: at the Left Hand of Odin“ (Fall of Man Press) und „Forthcoming and encirclement“ (Svarte Publishing). In diesen Büchern behandle und entwickle ich eine Richtung, die man „Pfad der linken Hand“ nennt – eine transgressive, traumatische Erfahrung des Sakralen und die Existenz der Tradition in den Zeiten des Ragnaröks, d.h. in der absolut unvorteilhaften Neuzeit. Im zweiten Buch appelliere ich viel an die Philosophie der Sprache und Martin Heidegger, was in unseren Kreisen wirklich selten ist.

Wenn wir über Heidentum im Ganzen sprechen, habe ich auf Russisch eine zweibändige Ausgabe unter dem Namen „Polemos: Der heidnische Traditionalismus“ veröffentlicht, insgesamt 800 Seiten. Dort behandle ich die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand von vielen indoeuropäischen heidnischen Traditionen. Ich erforsche und zeige an zahlreichen Beispielen, wie Moderne und Postmoderne ins Heidentum vordringen und schrittweise verschiedene Kulturen und Religionen zerstören. Ich spreche die aktuellsten Fragen an, mit Einschluss von Virtualität, Technik, Feminismus, Politik, Sprache usw. Doch außer der Kritik habe ich versucht, auch positive Punkte zu unterstreichen, z.B. Erfolge des Heidentums, neue Denkrichtungen und mystische Offenbarungen, die auch unter anderem mit Traditionalismus verbunden sind. Einige Informationen über das Buch auf Englisch gibt es auf der Webseite www.polemos.ru

Zudem habe ich schon mehr als 100 Artikel über Heidentum sowie Interviews mit verschiedenen heidnischen Persönlichkeiten aus Russland und Europa geschrieben. Wir veröffentlichen sie in unserem Jahrbuch „Warha“. In diesem Herbst wird schon die siebte Ausgabe auf Russisch verlegt werden; im Jahr 2019 wurde die zweite Ausgabe von „Warha Europe“ auf Englisch veröffentlicht. Man kann sie kostenlos im Internet herunterladen. Außerdem funktioniert schon seit zwei Jahren unsere eigene Medienplatform über Heidentum „Stiftung der traditionellen Religionen“ www.tradition.foundation, die gut unter russischen Erforschern des gegenwärtigen Heidentums bekannt ist.

Der heidnische Traditionalismus ist auch mit dem Traditionalismus von Julius Evola verbunden. Gewöhnlich verlinkt man Traditionalismus mit lokalen Sitten und Gewohnheiten. Aber der Traditionalismus von Evola oder René Guénon ist eine Philosophie, die sich auf die Lehre über historische Zyklen stützt. Dieser Lehre gemäß verändern sich die Epochen vom Goldenen Zeitalter bis zur Eisenzeit, und es gibt auch eine transzendente Wahrheit, auf der alle alte Religionen beruhen. Können Sie bitte über diese philosophische Richtung und ihre Verbindung mit dem heidnischen Traditionalismus ausführlicher erzählen?

Erzählen Sie auch über die evolianischen Konzepte von „Aufstand gegen die moderne Welt“ und „den Tiger reiten“, aus den die Titel von seinen wichtigsten Büchern bestehen. Was ist die „moderne Welt“ im Verstand von Evola und wie können wir am erfolgreichsten gegen sie in den dunklen Zeiten von Kali-Yuga revoltieren?

Genau davon schreibe ich in „Polemos“. Der Traditionalismus von Julius Evola, Mircea Eliade und Alain de Benoist liegt meiner Methode und Ansichten zugrunde. Ja, der heidnische Traditionalismus unterstreicht zwei Momente: A) Lokalität (Reject global, respect local) und Einzigartigkeit jeder heidnischen Tradition und Kultur ihres Volkes; B) Einheitlichkeit aller europäischen Traditionen auf dem höchsten theologischen Niveau, im apophatischen Kern des Sakralen. Es gibt eine andere Metapher: Die Gemeinsame Tradition ist die Grammatik des Sakralen, und einzelne Traditionen verschiedener Völker sind Mythen („Mythos“ ist wörtlich „Erzählung“), Geschichten und Kommunikation der Völker mit ihren Göttern. Diese Konzeption behebt Widersprüche und fordert nicht auf, eine einzige heidnische Kirche oder Religion zu schaffen, entwickelt auch keine Unifizierungsvoraussetzungen. Einheitlichkeit in Vielfalt. Pluralität der Kulturen gegen eine einzige Kultur oder Multikulturalismus des Schmelztiegels.

Über den evolianischen Aufruf „Revolt Against the Modern World“ („Aufstand gegen die moderne Welt“) spricht Evola am besten selbst. Zusammenfassend, repräsentiert die Welt der Moderne (ca. seit XV-XVI Jh.) eine umgekehrte Widerspiegelung der Welt der Tradition. Alles, was sakral war und die Struktur der traditionellen Gesellschaften formte, wurde vernichtet und umgestülpt. Das Sakrale wurde durch das Profane ersetzt, Aristokratie durch Bürgerschaft, Völker und Geschlechter durch Nationen, Religion durch Wissenschaft, Stände durch Egalität usw. Das Problem ist aber tiefer. Statt die traditionelle Denkweise haben wir die moderne Logik, Methoden und Algorithmen, Kartesianismus und Hegelianismus bekommen. Im Gefolge von René Guénon schlägt Evola vor, gegen das alles aufzustehen und die aristokratische Ehrliebe sowie die höchste sakrale Lebensorientierung wiederherzustellen.

Das späte Werk „Den Tiger reiten“ ist die Reflexion seines mehrjährigen Weges und der Versuche, die Tradition zu restaurieren. Evola gibt zu, dass man eine andere Strategie braucht. Kein Krieg für die Restaurierung selbst, aber List, Ausdauer und Abwarten. Von hier aus kommt das bekannte Prinzip „den Tiger reiten“, d.h. die existenziale Anstrengung und Treue (semper fidelis) der Tradition und den höchsten Idealen sogar in den Zeiten der totalen Enteignung und des Verfalls zu erhalten. „Europa ist als erstes die Untergangsphase betreten, sein Schicksal ist darum, als erstes daraus herauszukommen“ – sagt Evola. Als Nachteil dieses Werkes würde ich den falschen Verstand von Heideggers Ideen bemerken. Manche Erforscher sagen doch, dass Heidegger mit Werken von Evola bekannt war.

Zum Glück oder Unglück haben wir keine fertige universelle Formel, „wie wir alles zurückgewinnen könnten“. Es gibt verschiedene Varianten. Nach meiner Ansicht ist es in den Zeiten von Kali-Yuga unmöglich, große Initiationsgemeinschaften zu schaffen. Das Schicksal rollt in kleinen (einige Tausend ist auch klein) Gruppen oder auf dem individuellen Niveau ab. Der Weg, mit dem man die moderne Welt aus dem Antlitz der Erde auslöschen kann, ist uns noch nicht bekannt. Ich denke auch, dass ein richtiger Tod (Ausscheiden aus der Welt) in seiner Würdigkeit nutzreich für den weiteren Seelenweg sein kann und ein Funke werden, der allen anderen an die Flamme der Tradition erinnern würde.

Gibt es noch Denker, Philosophen und Schriftsteller, die Sie beeinflussten?

Wie ich schon gesagt habe, sind es Julius Evola, Mircea Eliade, Weleslav Tscherkasov und Alain de Benoist. Man muss auch Alexander Dugin hinzufügen; ich kenne tatsächlich alle seine Werke. Ich muss hier aber einen Vorbehalt machen, dass unsere Vorstellungen auf manche entscheidenden und einzelnen Fragen diametral entgegengesetzt sind. Man muss auch Martin Heidegger erwähnen, der an sich schon das Geheimnis aller Geheimnisse ist. Die Philosophie Heideggers ist eine Aufforderung, die tieferer und radikaler Fragen als Traditionalismus stellt. Eine Brücke zwischen Traditionalismus und Heidegger zu bauen ist eine sehr komplizierte Aufgabe. Hier ist es wichtiger, die Frage richtig zu stellen, als sie zu beantworten.

Ich kann auch andere Autoren in beliebiger Reihenfolge aufzählen: Meister Eckhart, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Jean Baudrillard, Kaarlo Pentti Linkola, Collin Cleary, die Poesie und den persönlichen Mythos von Evgeniy Golovin, die Poesie von Sergej Jessenin. Das ist doch aber nicht alles.

Es scheint zu sein, dass Heidentum ziemlich eng mit verschiedenen Auffassungen verbunden ist, die als „rechte“ markiert werden können. Zum Beispiel, die Neuen Rechten unter der Leitung vom Philosophen Alain de Benoist, der viel über Heidentum spricht. In Ihrer Meinung, was für die Neuen Rechten in grundlegenden Konzepten und Ideen von Heidentum und alten Religionen anziehend ist?

In vielen Aspekten ist es mit Tätigkeit von Alain de Benoist verbunden. Aber wenn wir es von der geschichtlichen Seite betrachten, lässt sich das Interesse der nationalorientierten Denker zu den Traditionen und zum Boden (Folklore) ihrer Völker über Jahrhunderte hinweg zurückverfolgen. Der Nachteil der Ideen von de Benoist liegt in der Bekämpfung vom strengen Nationalismus, was in Wirklichkeit eine pure Manifestation der Moderne ist. Er appellierte an die Kultur und Ethnizität, an die Erforschung der europäischen Kulturen und Geschichte, sowie an den Verzicht auf die Globalisierung. Für ihn ist Heidentum eine Denkweise, in deren Rahmen man so eine Ansicht und Praxis bilden kann, die die Irrtümer der Moderne und der Aufklärungszeit vermeiden lassen würden. Für Alain de Benoist, für alle überzeugten Neuen Rechten und Identaristen haben die Aufklärungszeit, Egalitarismus und Globalisierung ihren Ursprung in Christentum, das die grundsätzlichen Voraussetzungen legen, die später als die Moderne aufblühen. Das Wichtigste hier ist, dass es keine subjektive Position von de Benoist ist. Diese Ideen sind generell für viele Autoren und sind wahr in sich selbst.

Unter den Neuen Rechten ist auch Alexander Dugin weitbekannt. Was denken Sie über die Vierte Politische Theorie und die eurasische Bewegung?

Wie ich es schon erwähnt habe, bin mit Ideen von Alexander Dugin sehr gut bekannt. Nebenbei gesagt, sogar er gibt in seinen Büchern („Postphilosophie“) zu, dass Christentum ein Schritt zum Verfall und zur Moderne ist.

Der Eurasismus ist ein außenpolitisches Projekt und eine Ideologie. In Russland ist sein regelrechter Reinfall zu vermerken. Westliche Kreisen können einen Eindruck bekommen, dass Russland eine Hochburg von Konservatismus und Religion ist, aber das ist die Folge von der außenpolitischen Propaganda und vom Fernsehen. Das ist ein oligarchisches Land. Der Konservatismus wird hier stimuliert, um das Volk zu trösten und die Loyalität der Wähler zu gewinnen.

Die Vierte Politische Theorie ist ein sehr anziehendes Konzept. Es hat genaue Formulierungen der vorgängigen Formationen und Vorschläge, „wie alles NICHT sein muss“. Im Ganzen entwickelt das Konzept die Positionen von de Benoist und Traditionalismus mit Einfluss von Heidegger und einer härteren Überwindung der Moderne. Diese Theorie hat Nachteile (oder Vorteile, es hängt von der Einstellung ab) – die Abwesenheit der praktischen Verkörperungen oder genauen Roadmaps, sowie auch positiven Beschreibungen. Ich glaube, dass es der Plan war, Denkern und Politikern so einen Raum zu geben, der grundsätzliche Regeln und Intentionen enthalten würde, aber die genauen Verkörperungen der Vierten Politischen Theorie in verschiedenen Plätzen der Erde können auch verschieden sein. Schließlich ist diese Theorie noch in Entwicklung, und, um ihre „Mechanik“ besser zu verstehen, muss man sie erforschen und selbst Lösungen vorschlagen, die sich auf der Kultur und (Geo)Politik des Landes basieren würden.

Während der moderne Mensch Mythen als primitive Märchen zur Seite schiebt, glauben doch viele, dass Mythen etwas viel Größeres sind. Mythische Lebewesen, Helden und Götter verkörpern verschiedene Archetypen, aber Mythen selbst sind größer als nur Geschichten unserer Ahnen. Wie begreifen Sie alte Mythen, was können wir davon lernen und warum ist es für jedes Volk wichtig, seine eigenen Mythen und Legenden zu bewahren?

Zuerst muss man sagen, dass jede Behauptung über die Überwindung der Mythologie von der modernen Wissenschaft und Gesellschaft ist an und für sich falsch. Jetzt existieren Mythen nur als degenerative Bruchstücke und Wiederspiegelungen der Stereotypen, der Politik- bzw. Marketingmythen, die für genaue Ziele geschaffen wurden. Davon haben Jean Baudrillard und Roland Barthes geschrieben. Trotz Pathos der Rationalität, sind Gesellschaften in ihrer sozialen Dynamik tief irrational.

Ein Mythos ist eine Erzählung, eine Geschichte, ein Narrativ. Ich glaube, dass der Mythos ein Paradigma und in gewissem Sinne eine Episteme ist. D.h. eine besondere Weise, Logik und Denkprozeduren, die den klassischen Kartesianismus und die Logik von Aristoteles, die man in der Schule unterrichtet, übertreffen. Collin Cleary hat eine gute Formulierung von solcher Daseinsordnung: dem Dasein und dem positiven Willen der poetischen Schöpfung offen zu sein.

Sich im Mythos (im Mythos der Kultur von einem Volk) einzuleben heißt, unser Denken, unsere Weltanschauung und Daseinsweise zu verändern. Was können wir vom Mythos lernen? Überhaupt alles. Der Mythos ist unsere Heimat.

Der Materialismus herrscht in Europa von heute, sowie überhaupt im Westen, und lässt immer weniger Platz für eine echte Geistigkeit. Allerdings entsteht es der Eindruck, dass in Menschen noch der Wunsch vom irgendwelchen „Mythos“ oder von der „Mythologie“ immer noch bleibt. Als Beispiel kann man hier die wachsende Popularität der Filme und Bücher nach mythologischen Motiven bringen, z.B. die Bücher von J. R. R. Tolkien, die heute so wie auch vor sieben Jahren beliebt sind. Nach Ihrer Meinung, was verbergt sich hinter der Tatsache, dass Menschen, trotz der überall gebenden Rationalisierung, nach solchen Geschichten immerhin streben? Können Sie zustimmen, dass Menschen auf dem unterbewussten Niveau in die Welt der Mythen und Traditionen zurückkehren wollen, weil der moderne utilitäre Liberalismus ihre geistigen Bedürfnisse nicht abdecken kann?

Ich denke, dass der Grund davon im Wunsch der Filmhersteller liegt, Profit zu erzielen. Ich habe deswegen keine Illusionen, dass Filme und Serien in der Popularisierung der Tradition irgendwie helfen kann. Das muss man wie ein Axiom begreifen: alles, was von Medien oder vom Fernsehen betroffen wird, degradiert. Jeder, der sagt, dass die Serie „Vikings“ die germanisch-skandinavische Tradition popularisiert, ist im besten Fall ein dummer Mensch. Die Popularität ist hier aus den Spezialeffekten und der Mode auf diese oder jene Kulturthemen geboren. Nach einigen Jahren werden alle sich vor Fantasy und Märchen ekeln; etwas anderes wird gesehen werden.

In Bezug auf Tolkien, Martin, Gaiman und andere solche Literatur denke ich, dass es Simulakren, Fälschungen und Kompilationen von echten Mythen und Traditionen. Wenn der Leser etwas „episches“ oder „märchenhaftes“ finden will, dann würde er lieber Sagen oder sakrale Texte selbst lesen, und am besten – alle diese Prinzipien in die Tat umsetzen.

Sie sind recht, wenn Sie sagen, dass moderne utilitäre liberale Ansichten geistige Bedürfnisse nicht abdecken können. Menschen fühlen eine tiefliegende Nostalgie für die Authentizität, und sie haben keine Idee, wo sie gefunden sein kann. Hier wird gleich ein Hirngespinst geboren, wenn das System den Menschen eine Pseudogeistigkeit in Form von einer echten Geistigkeit verfüttert, auch unter dem Deckmantel vom Unterhaltungsinhalt. Menschen sind schwach und blind, darum „in den Mythos zurückzugehen“ heißt für sie „sich die nächste Serie anzusehen“. Solche Menschen sind verloren.

Abgesehen von dem schon erwähnten heidnischen Traditionalismus, sind Sie auch ein Nachfolger vom „Pfad der Linken Hand“. Können Sie die geistige Dimension dieses Pfads ausführlicher erklären?

Der Begriff „der Pfad der Linken Hand“ ist der gemeinsame Name für viele traditionelle und gegenwärtige Schule und Doktrinen. Manche davon sind sogar einander entgegengesetzt, darum werde ich über meine eigene Ansicht sprechen.

Nach meiner Meinung, „der Pfad der Linken Hand“ ist eine Anschauungsweise oder eine Konfiguration innerhalb der Tradition, die den geänderten metaphysischen Umständen unserer Epoche entspricht. Grob vereinfacht, man kann die Tradition während der Eisenzeit nicht so praktizieren, als ob wir das goldene Alter hätten. Darum schlägt der Pfad der Linken Hand vor, das Problem aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Die Rede ist nicht über die Restaurierung vom goldenen Alter oder über das Zurückkehren in die bequeme Welt des bürgerlichen Konservatismus; fast 100% der europäischen Konservativen haben als ihr Ideal gerade der bürgerliche Konservatismus von 18-19 Jh.

Man muss an das transgressive und radikale Erleben der unvorteilhaften metaphysischen Umstände als eine Aufweisung der gebotenen Sachenordnung    appellieren. Davon kommt eine gesteigerte Achtung auf die dunkle Ästhetik und Gestalten, die mit dem Tod, Zerstörungen und ekstatischen (schamanischen) Praktiken verbunden sind. Das ist aber das Außenniveau. Wenn man tiefer geht, stößt sich alles auf das Problem der Denkweise und der korrekten Interpretation der Zeitmetaphysik und seiner eigenen inneren Natur. D.h., der Pfad der Linken Hand ist der höchstmöglich vorteilhafte Weg der geistigen Realisation in der für die Tradition höchstmöglich unvorteilhafte Epoche. Dieser Pfad ist mit Grausen für die Menschen umkreist, die für diesen Weg noch nicht bereit sind, oder es überhaupt nicht brauchen. Ich bin mit der Vorstellung einverstanden, laut der unsere Zeit der Zerstörung, Parodien und Simulationen unter dem Ehrenschutz der Götter von Tod, Gestaltauswechslung und Bewusstseinsveränderung (z.B. Dionysos und Wotan) steht. Die Frage ist, welches Opfer und wie in ihrer Ehre bringen sollen.

Russland gilt traditionell als ein slawisches Land, aber Sie sind ein Nachfolger des germanischen Odinismus, und nicht des slawischen Rodismus. Alte europäische Traditionen sind ja auch ethnische Traditionen. Wie und warum haben sie beschlossen, diesem Weg zu folgen? Ist es mit skandinavischen Wurzeln der russischen Staatlichkeit verbunden?

Wie ich schon im Beginn erwähnte, habe ich sehr viele deutsche Ahnen in beiden Elternlinien. Meine Ahnen wohnen in Schwaben und Bayern, darum die Lösung dieser Frage war korrekt. Ich bin mit Rodisten sowie anderen slawischen (und nicht nur) befreundet, sie sind meine Mitkämpfer.

Wie ich früher sagte, haben alte Religionen Europas, die von Natur aus ethnisch sind, ihren Ursprung in vedischen Glaubensvorstellungen und in Indoeuropäern, die Urahnen der europäischen Sprachen und Völker sind. Wir können diese Verbindung leicht durch den Vergleich der Götter von verschiedenen europäischen Völkern erkennen. Können Sie uns über diesen Verbindungen mehr erzählen, vielleicht mit Beispielen der ähnlichen Glaubensvorstellungen und Götter und Europa, besonders zwischen germanischen und slawischen Göttern, Mythen und Volksglauben?

In Bezug auf die gemeinsame Verwandtschaft wurde alles schon wunderbar von Georges Dumézil erwähnt, siehe das Buch „Die obersten Götter der Indoeuropäer“ („Les dieux souverains des Indo-Européens“). Die akademische Linguistik ist auch zu berücksichtigen. Es gibt viele Beispiele, solche wie die triadische Struktur der obersten Götter bei indoeuropäischen Völkern oder vergleichbare Begriffe für „Gott“ in verschiedenen Sprachen.

Im Russischen ist das Wort „bog“ (russ. „бог“) für die Bezeichnung der sakralen himmlischen Figuren allgemeingültig. Dieses Wort hat seinen Ursprung im urslawischen *bogъ und, laut M. Vasmer, in der urindoeuropäischen Wurzel *bhag (vgl. mit ind. bhágas), die „begaben“, „geben“, „verteilen“ und „teilen“ bedeutet. Etymologisch ist ein Gott ein „Gebender“ und „Beschenkender”, wie Dažbog in der slawischen Mythologie.

In der deutschen Sprache ist das Wort „Gott“ im Gebrauch, in der englischen „god“, in der altnorwegischen „goð/guð“. Diese Wörter geht zum urgermanischen *guda(n) zurück und zur urindoeuropäischen Wurzel *ǵhuto, abgeleitet von *ǵhew mit der Bedeutung von „ausufern“ oder *ǵhaw mit der Bedeutung von „anrufen“ (invozieren).

Alle Bedeutungen liegen im gleichen semantischen Feld: gebend, verteilend, beschenkend und sich damit im Himmel befindend. D.h., dass Götter sind solche, die vom Himmel etwas geben bzw. etwas unter allen verteilen.

Die Wissenschaft schlägt vor, über die Möglichkeit der einheitlichen Ursprache zu denken, die in alten Zeiten gesprochen wurde; über das einheitliche Volk, aus dem sich im Verlauf der Jahrhunderte alle indoeuropäische Völker entwickeln. Diese Frage führt uns unbeschreiblich tief in solche Zeiten, über die Wissenschaftler nur Hypothesen und Fragen ohne Antworten stellen können.

Dabei unterstütze ich nicht die radikale Version der kulturellen Kreise, laut der alle Dinge, Wörter und Sachen nur einmal im Lauf der Geschichte entdeckt werden, und sich dann von Volk zu Volk ausbreiten. Das ist unsinnig und schließt die Möglichkeit von einer Koinzidenz der identischen Lösungen bei verschiedenen Völkern aus, die sich miteinander nie getroffen haben. Dieser Denkansatz nötigt uns die Idee auf, dass manche Völker als Träger von Progress und Erfindungen betrachtet werden können, sowie andere nur fremde Entdeckungen übernehmen. Das ist seiner Art kultureller Rassismus auf dem archäologischen Niveau. Unsere gemeinsame Verwandtschaft auf der Ebene der Urahnen soll unsere Eigenständigkeit und verschiedene Lösungen der gleichen Aufgaben (abhängig von Kultur- oder Umfeldunterschieden) nicht ausschließen. Letzens ist für mich unsere Verwandtschaft in der sakralen, transzendenten Dimension wichtiger. Das ist keine Verwandtschaft in der Vergangenheit, sondern hier und jetzt.

Der einzige Text, der angeblich von vorchristlichen Slawen und nicht von Bekehrern zusammengestellt wurde, und auch Beschreibungen der slawischen Glaubensvorstellungen enthält, ist das „Buch von Veles“, das auf hölzernen Tafeln geschrieben worden war. Dieser Text war in Russland im Beginn vom 20. Jh. entdeckt und von vielen Wissenschaftlern als eine Fälschung erklärt. Was denken Sie über diesen Text, und welchen Stellenwert hat er unter russischen Rodisten?

Das „Buch von Veles“ ist eine Fälschung, und das ist ein Feststehende Tatsache. Niemand hat irgendeinmal solche Tafel gesehen; die linguistische und kulturologische Analyse spricht über den streng modernen Ursprung von diesem Text. Meiner Meinung nach ist die am meisten überzeugende Version, dass Mirolyubov indische Mythen auf der Sprache der russischen Folklore umschreiben wollte. Es war ganz im Sinne von jener Epoche, wenn es ein großes Interesse für den Osten gab usw. Manche Ideen, die er in seinem Werk vorgeschlagen hatte, fanden Gehör unter Rodisten, z.B. die dreiteilige Welt und die Gestalt von Veles. Diese Fragmente stehen den indoeuropäischen Strukturen sehr nah. Aber im Ganzen ist es eine Fälschung, die als keine authentische Quelle betrachtet werden kann. Unter russischen Rodisten ist es ein Zeichen der Adäquanz.

Als Christentum begann, sich in Europa auszubreiten, nahm es viele lokale Sitten, Legende und Praktiken in seine Lehre, um freilich die Vorrangstellung der neuen Religion zu sichern. Können sie Beispiele von dieser Praktik in Russland zu bringen und erwähnen, wie, nach ihrer Meinung, Heidentum und Christentum entgegengesetzt sind?

Sie sprechen über den „Doppelglauben“ (dual faith), der man heutzutage versucht, als die „völkische Orthodoxie“ darzustellen. In Wirklichkeit sieht alles ziemlich kompliziert aus. Selbstredend, als Christentum seine Herrschaft auszuüben begann, neigte es sich, ungewollt oder nicht, viele Bestandteile der heidnischen Kultur und Kalender an. Z.B. betrifft es die Tradition vom Weihnachtssingen (der Aufzug der Verkleideten). In Heidentum waren es Geister, die Gaben sammelten (fast im Sinn von Bataille und Mauss), und in der Orthodoxie widerspiegelte es die Vorbedeutung der Geburt Christi (z.B. trug man Sterne am Hals). Noch besser bekannt ist die Praktik der Anpassung von christlichen Feiertagen zu Daten des heidnischen Kalenders, was besonders gut im Beispiel des katholischen Weihnachtens ersichtlich ist, das fast völlig mit dem Fest der Wintersonnenwende übereinstimmt. Insgesamt ist es so, besonders wenn man folgerichtig und strikt ist, kann man überhaupt nicht sagen, dass das russische oder andere Volk in vollem Umfang christianisiert wurde. Die Situation sieht eher so aus, dass das Volk das Außenniveau, Benehmen und Begriffe des Christentums aufnahm, verstand es aber in einer ganz heidnischen Denklogik. Es gab eine Rekonfiguration der Mythen und Denkstrukturen. Die gleichen Prozesse fanden auch in Europa statt. In Bezug auf Russland und Slawen muss man eine besondere Acht auf allerartige völkische und häretische Sekten, Richtungen, Mystiker, Folklore.

Ich würde aber besonders unterstreichen, dass das oben Gesagte nicht nur für die Folklore und einfache Menschen richtig ist. Fast immer und in jeder Epoche kann man unter Mönchen oder religiösen Denkern viele Spuren der hellenistischen heidnischen Philosophie und der Durchdringung des Volksdenkens auf die Klerusebene entdecken. D.h., dass die Geistlichen selbst nicht selten in okkulten, mystischen und heidnischen Kategorien denken. Ich würde es den „theologischen Doppelglauben“ (theological dual faith) benennen. Leuchtende Beispiele sind Pawel Florenski, Nikolaus von Kues, Meister Eckhart.

Einen scharfen Verstand und eine intellektuelle Intuition habend, kann man Christentum in jeder Kultur dekonstruieren und entschlüsseln. Man muss nur verborgene Strukturen und Sujets des heidnischen Denkens und der Folklore reinigen, und dann in sie die frische Luft des Lebens einatmen. Dafür müssen gegenwärtige Heiden ihre eigene Theologie und Philosophie entwickeln, sowie eigene Philosophen suchen und unterstützen.

Inwieweit sind alte Traditionen, solche wie Odinismus oder Rodismus, in Russland unter einfachen Menschen verbreitet, wie werden sie von der Gesellschaft im Ganzen aufgefasst? Wirken sie mit anderen heidnischen Organisationen oder Stiftungen in Russland oder im Ausland zusammen?

Nach subjektiven Einschätzungen ist die Zahl der Heiden in Russland in den letzten zehn Jahren wesentlich gewachsen. Religionswissenschaftler bemerken, dass heidnische Gesellschaften in ihrer Entwicklung aus einer Subkultur gewachsen sind und jetzt als Gemeinden existieren. Es geht sowohl Rodisten als auch Odinisten/Asatru an. Dabei sind Nachfolger von Asatru gewöhnlich aktiver, und Rodisten sind mengenmäßig überwiegend. Ungeachtet dessen wird Heidentum auf dem staatlichen und gesellschaftlichen Niveau immer noch verteufelt und verfolgt. Jetzt achten wir viel auf die Soziologie unserer Gesellschaften, auf Umfragen und Meinungen. Verfolgungsfälle werden von uns auch registriert. So, am Ende von 2019 wurde die sagenhafte Kultstätte der Rodisten in der Nähe von Malojarosslawetz zerstört. Diese Nachricht erregte sehr viel Ärgernis in Polen und anderen osteuropäischen Ländern, was besonders erstaunlich war.

Heute erlebt der slawisch-russische Rodismus einen Generationswechsel. Es kommen neue Aktivisten und Denker, die eine gewisse Revision der vorherigen Erfahrung durchführen. Manchmal unbegründet frech, manchmal auch gerechtfertigt. Es ist erwünscht, dass diese Initiativen sich in neue beständige Organisationen und Denkschulen verwandeln.

Ja, wir versuchen, mit allen gesunden und adäquaten Kräften weltweit zusammenzuwirken, von Asien bis Amerika, von Griechenland bis Schweden. Natürlich können wir geschichtliche, politische, theologische und metaphysische Kontoversen nicht vermeiden. Darum muss man klardenkend und gefühlskalt arbeiten. Wo es eine Möglichkeit gibt, sich abzustimmen, muss man es machen. In meiner Sicht ist der heidnische Traditionalismus die Arbeitssprache unserer Kommunikation und eine potenzielle Plattform für alle Heiden, die den verderblichen Einfluss der Moderne auf ihre Sitten und Kultur begreifen.

Danke für das Interview. Was würden Sie unseren Lesern zum Abschied sagen?

Danke für die interessanten Fragen. Stellt mutig das hohe Altertum der niedrigen Moderne. Erkennt das Lied vom Mythos unter dem weißen Rauschen der Alltäglichkeit.

Den Göttern zu Ehre.

Übersetzt aus dem Russischen ins Deutsche von Sven
(Gemeinde Jörmungarðr („die große Stadt“),
der russische Asatru-Gemeindebund).